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Eröffnungsvortrag der Einzelausstellung von Suah Im, 18. 06. 2022, 17 Uhr 
Kunstkreis Leinfelden-Echterdingen, Altes Rathaus Musberg
Redetext von Werner Meyer

 

Einladungskarte Suah Im 2022-05-03cdr-1.PNG

Vernissage: Samstag, 18. Juni 2022, 17.00 Uhr
Es spricht: Werner Meyer, der frühere Leiter der Kunsthalle Göppingen
Ausstellungsdauer: 18. Juni bis 24. Juli 2022

 

Suah Im ist die Preisträgerin des Kunstpreises Kunsthub 2021, der von der Stadt Leinfelden-Echterdingen, der Firma MHZ und dem Kulturkreis LE e.V. vergeben wurde. Die Ausstellung wird gefördert von der Kunststiftung Bonn.

Suah Im ist in Südkorea geboren und aufgewachsen. Sie hat in Südkorea ein Studium der Malerei abgeschlossen und an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart bei Prof. Birgit Brenner studiert und ist noch Meisterschülerin bei Professor Nina Fischer in der Universität der Künste Berlin (experimenteller Film und Medienkunst).

Mit multimedialen Strategien schafft sie in ihren Ausstellungen und mit ihren Werken und Werkreihen Situationen, die bestimmte Motive in ihren Bedeutungsdimensionen und Gestaltmöglichkeiten ausloten.

Suah Im beschreibt sich auf ihrer website als »auf der Suche nach dem Wesen meines Ichs … Meine Arbeiten adressieren mittlerweile Themen wie ‚Konfrontation mit Herausforderungen‘ und ‚Überwindung von Beschränkungen’«. Sie, meine Damen und Herren, sind mit dieser Ausstellung und den Werken Suah Ims in »Situationen« versetzt, in denen Sie an den Recherchen und Vorstellungen der Künstlerin, an ihren innere und äußere Form gewordenen Bildern ein Stück teilhaben können. Der Begriff der »Situation« ist eine wesentliche existenzphilosophische Rahmenvorstellung. Die Erforschungen von »Situationen« haben den Zweck, humane Möglichkeiten des Menschseins und Grenzen solcher Möglichkeiten aufzuweisen – und zu überschreiten. »Das Erfassen der Situation ist von der Art, dass es sie schon ändert, sofern es Appell an Handeln und Sich-Verhalten möglich macht. Eine Situation zu erblicken, ist der Beginn, ihrer Herr zu werden, sie ins Auge zu fassen, schon der Wille, der um ein Sein ringt. Wenn ich die Situation der Zeit (des Moments) suche, so will ich ein Mensch sein«. (www.zvab.com/allgemeine-Psychopathologie/autor/jaspers). Was in der Formulierung des Psychiaters und Philosophen Karl Jaspers eine Kategorie des Existenzialismus ist, spielt für die Künstlerin Suah Im eine wesentliche Rolle: Sie schafft in ihren Installationen, in den Zeichnungen und Videoarbeiten »Situationen«, in denen ihre Person, ihr Ich, ihr Selbstbewusstsein eine wesentliche Perspektive und Motivation ist, im Zusammenhang mit bestimmten Gegenständen, die als Motive zugleich Hilfsmittel zu diesen Recherchen sind. Es ist ein kaum zu fassendes Spiel ihrer Ausdrucks- und vor allem ihrer Vorstellungsmöglichkeiten und Fähigkeiten zu Assoziationen, dem sie sich aussetzt, mit denen sie als Künstlerin umgeht. Ich erkenne starke Bilder, die meine Neugier und mein Interesse wecken und herausfordern. Ich will mir die Motive erschließen, und davon soll die Rede sein. Hinsehen ist die Voraussetzung, genügt aber nicht. Wir müssen uns selbst auf die Suche nach möglichen Interpretationen machen.

Wie es zur Ameise als Motiv, Thema und Alter Ego kommt, beschreibt Suah Im in einem Text «eine Abhandlung auf die Ameise«. Und weil ich es nicht besser beschreiben kann, zitiere ich aus diesem Text: »Laut der altchinesischen Lehre der sogenannten vier Säulen und acht Zeichen der Vorsehung wurde ich mit den Charakterzügen des Energietypen Gye-Mi geboren, welcher durch mein Geburtsdatum bestimmt wird. … Bildlich lässt sich das Gye-Mi einerseits als schwarzes Schaf und andererseits als Regen in einer Wüste darstellen. Gye symbolisiert u.a. die Farbe Schwarz und das die Erde durchsickernde Wasser, Wasser voller Lebensenergie und belebender Kraft für die Erde, die Pflanzen und die Tiere… Die zweite Silbe Mi steht für die Farbe Gelb, für die durch das Sonnenlich geheizte trockene Erde im Spätsommer bzw. in der Wüste…« – So weit das daoistische Horoskop, das sich wie ein Orakel liest.

Nd dann macht das künstlerische Denken Suah Ims eine assoziative Wende:  »Ausgesprochen ähnelt das chinesische ‚Gye-Mi‘ dem koreanischen Wort ‚Gae-Mi‘, das ins Deutsche übersetzt ‚Ameise‘ bedeutet«. Ähnlich wie in der europäischen Sicht, symbolisieren die Ameisen auch in Korea die fleißigen, angepassten, konsumierenden Menschen als gesellschaftliche ‚Masse Mensch’«.

»Von Zeit zu Zeit erkenne ich mich unter manchen Umständen in der Projektion meines Ichs auf das Bild der Ameise wieder. Die Suche nach dem Wesen meines Ichs, die Kernthematik vieler meiner Arbeiten, beginnt mit der Akzeptanz und Beobachtung des kleinen, schwachen, nachgebenden und angepassten Wesens«. Eine Weiterentwicklung davon wird in der vorliegenden Installation dargestellt. »Hierbei projiziere ich mein Dasein auf das einer Ameise, aber ich finde »meine Rettung und Befreiung« auf der Reise in die Welt der altchinesischen Philosophie, auf die sich auch die kleine Ameise begibt«.

»In der Fünf-Elemente-Lehre des Doismus wird das Metall als dasjenige Element beschrieben, das für das Wasser erzeugend bzw. fördernd wirkt. Deshalb ist das Bild der Ameise aus metallenen Drähten geformt. Der Hinterleib der Ameise ist wie ein Behälter, wie ein Korb geformt. Das Video auf dem Bildschirm zeigt mich in der Gestalt einer Ameise… ich krieche und tummele mich ohne Pause. « (vergl. Suah Im, Springseil. Die Überwindung der Grenze. Stuttgart 2022, S. 210ff). Da muss man draufkommen: die performative Aktion der Künstlerin als »sich tummeln« zu bezeichnen!

Das Wasser im Schlauch (ein Kreislauf) symbolisiert die Versorgung des Gye-Mi-Menschen oder der Gae-Mi-Ameise mit Lebensenergie und Kraft. Der Schlauch mit dem Wasser verbindet den Hinterleib der Ameise mit dem darüber befindlichen schwarzen Gebilde, das aus mit Epoxisharz gestärkten Textilien besteht und die Form einer Nase angenommen hat. Suah Ims Text endet mit folgenden Sätzen: Mit den weit geöffneten Nasenlöchern riecht die Ameise bzw. der Gye-Mi-Mensch die belebende Kraft des Wassers und sagt schließlich: »Alles wird gut«. (naiv selbstertüchtigender Glaube, zweifelnde Ironie?)

Aus mit Epoxidharz verfestigten Seidenstrümpfen geformt ragt ein einzelnes, übergroßes Bein heraus aus dem Körper der Ameise, auf dem Boden fußend mit einer schwarzen Fläche mit dem chinesischen Zeichen für Gye in gelber Farbe.

Jetzt können wir die Aquarellzeichnungen als Ausweitung der Installation und Suah Ims Umgang mit dem Thema begreifen, als bildgewordene Vorstellungen von Situationen (s.o.), als Metaphern ihres Daseins.

»Ameise und Michael Jackson« – die Konfrontation der kleinen Ameise mit den zu ihrer Größe gigantischen Stöckelschuhen (Pumps), die für Tanzen stehen und für die Bedeutung der Musik Michael Jacksons für die Künstlerin.

»Ameisen fahren«: Der Hinterkörper der übergroßen Ameise ist wie ein Topf geformt. Darin die kleine Frau / das Mädchen in einer blauen Wasserblase.

Das raffinierte Spiel mit Realität und Fiktion zeigt sich in allen Zeichnungen. In einer anderen Darstellung befindet sich eine kleine Ameise in einem transparenten Gefäß, betrachtet von einen im Verhältnis zu ihr riesigen Ameise, deren Hinterkörper aufgebrochen ist mit der Last und der Sprengkraft eines schlafenden, träumenden, kugelförmigen Gesichts. Alles kann das Ich andeuten, auf dessen Suche sich die Künstlerin in den Bildern befindet. Und es zeigt die Sprengkraft (auch eine Energie!) und die dialektische Komplexität dieses intuitiven, Grenzen sprengenden Vorstellungsvermögens der Künstlerin. Diese Motive und Situationen auszudeuten, würde kein schlüssiges Ende finden. Genau das ist die Stärke der Konstellationen und bedeutet das Abenteuer der künstlerischen Suche.

Eine weitere Gruppe von Arbeiten der Künstlerin beschäftig sich mit dem Sinnesorgan Nase und mit der Knoblauchknolle. Die Nase steht für die Wahrnehmung von Gerüchen außerhalb unserer Selbstwahrnehmung, hier des besonders intensiven und kulturprägenden Geruchs dieser Pflanze. Sie verkörpert ebenso das Ich, das Selbst der wahrnehmenden und sich in Beziehung zur Umwelt setzenden Künstlerin. Knoblauch ist in der Küche Südkoreas omnipräsent, zum charakteristischen Geruch gehört Knoblauch, die Pflanze ist nicht nur allgegenwärtiges Gemüse, sie gilt auch als besonders gesund. Der Geruch bedeutet für die Künstlerin sicher auch ein Stück Heimat. Koreaner*innen hängen gerade auch im Ausland sehr an ihrer wunderbaren koreanischen Küche und ihren Essgewohnheiten. Und wir wissen, wie sehr die Nase an der Wertschätzung des Geschmacks beteiligt ist.

Und wenn es um die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Bild der Nase geht, dann ist auch die Dekonstruktion ein probates Mittel zur neuen Betrachtung und Rekonstruktion: die Installation ihrer Elemente, beiden Nasenflügel und des Nasenrückens als Skulptur. Der Prozess geht weiter in dem Video, in dem die Künstlerin performativ eins wird mit einer anderen großformatigen Nasenskulptur. Sie tummelt“ sich, indem sie aus dem einen Nasenloch herauskriecht, um sogleich in einem anderen Nasenflügel zu verschwinden. Im Bild ist diese Nase riesig, die Figur klein. Zugleich durchdringt sie das Sinnesorgan, wird eins mit seinem Bild – zwei Realitäten, die Skulptur (Fiktion) und die performende Künstlerin spielen zusammen, und es passiert wieder etwas wesentliches, wie in den meisten, vielleicht allen Bildern von Suah Im: In ihrer Kunst vermag sie jegliche Logik und allen Realismus, eigentlich jede Grenze des Vorstellungsvermögens zu überschreiten, ins Groteske zu überzeichnen. Das gilt auch für die Knoblauchknolle. In den Aquarellzeichnungen wird sie der Nase in Form und Farbe immer ähnlicher. In anderen Aquarellzeichnungen wird die Form monumental, bildfüllend verdrängt sie alles andere, mutiert zum Alien usw. Jede der Aquarellzeichnungen hat ihr eigenes, geheimnisvolle und nicht einfach zu entschlüsselndes Szenario. Interessant auch, wie sie mittels der malerischen Mittel, der Farbe und der Zeichnung mit den Realitäten geistiger und physischer Natur spielt.

In einer anderen Zeichnung stakst ein Kopffüßler mit Knoblauchknollengesicht und stäbchenförmigen langen Beinen über eine einzelne Knoblauchzehe. »du, da« ist in rot geschrieben in der weißen Bildfläche (Bildraum) zu lesen. Ist das merkwürdige Wesen so angesprochen, oder der / die Betrachter*in, oder meint die Künstlerin gar sich selbst? Wir können die Realien erkennen, wie können versuchen, das Wesen als Metapher zu deuten, und wir riskieren, in einem kafkaesken, grotesken Irrwitz zu landen. (Franz Kafka hätte darüber wahrscheinlich mit Lust gelacht.)

Angesichts der Ameise von Suah Im habe ich ein berühmtes Werk wieder gelesen: Franz Kafka, Die Verwandlung. Die Erzählung beginnt so: »Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachtet, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt… Was ist mit mir geschehen? Dachte er. Es war kein Traum… « Was war es dann? Literarische Fiktion für Kafka und für uns als Leser. Kafkas Gregor Samsa verwandelt sich in einen riesigen Käfer.

Der Name Samsa ist ein Kryptogramm für Kafka. Suah Im kommt auf die Ameise durch ihr chinesische Horoskop, dessen Name / Bild in der koreanischen Sprache wie Ameise klingt. In beiden Fiktionen nimmt mit der Verwandlung eine groteske, absurde Geschichte mit ebensolchen Situationen ihren Ausgang und ihren Lauf. Beide nehmen durchaus persönliche Erinnerungen und Erfahrungen mit in Anspruch. Die Fiktion hat bei beiden ausgesprochen realistische Züge, und zugleich ist es wie grotesker Wahnsinn, was die Verwandlung betrifft und die Konstellationen, die sich in den Bildern ergeben. Also eine Gemengelage von scheinbarem Realismus und phantastischer Irrealität, von realistischer Beschreibung und dem Ungeheuerlichen, dem eigentlich Unmöglichen, das aber in der Fiktion uns sehr nahe kommt. Franz Kafka ist ein literarischer Meister des Absurden. Suah Ims Bilder sind so stark, weil sie das Absurde zugleich anrührend werden lässt.

Die Philosophie des Absurden bezieht sich auf den Konflikt zwischen einerseits dem menschlichen Streben, eine Erklärung und einen Sinn des Lebens, des Ichs oder des Selbst zu suchen, und andererseits der menschlichen Unfähigkeit, irgendwelche sicheren und verlässlichen Bedeutungen zu finden. Und was tun Künstler*innen wie Suah Im oder wir? Nach albert Camus begegnet man dem Absurden, indem man sich dagegen auflehnt, ihm nicht etwa Sinn sondern vielmehr Wert abtrotzt, Wert für neue, andere Wege als die des Gewohnten, Normalen in dem, was wir für Realität halten.  Realität und deren Wahrnehmung sind letztlich genauso Konstruktionen in unserem Denken wie die Fiktionalität der Geschichten und Situationen, die wir in der Ausstellung sehen. Eigentlich ist das Leben und das Ich, wenn wir es denn suchen, mit allen absurden und grotesken Widersprüchen ungeheuer, fragil, fragwürdig – und das ist vielleicht der Sinn, meines Erachtens auf jeden Fall der Wert der Kunstwerke von Suah Im. Angst davor hat damit zu tun, sich angesichts dessen klein zu fühlen.

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